FAZ: Gefühle so groß wie ein Mammut. Von Gefühlen und dem Umgang damit: Theatermacher Jan Philipp Stange und sein Team zeigen das Kinderstück „Die Mammutaufgabe“ in der Frankfurter Netzwerk Seilerei.
Wie viel Schwere verträgt ein Stück für Kinder? Diese Frage dürften sich Regisseur Jan Philipp Stange und sein Team für die Inszenierung „Die Mammutaufgabe“ in der Frankfurter Netzwerk Seilerei wohl mehr als einmal gestellt haben. So beginnt das Stück mit einer lockeren Exposition, einem im Falsett singenden, riesigen, pelzigen Mammut, das so aussieht, als sei es für die Vorstellung extra aus dem Senckenberg-Museum geholt worden. Dieses großartige Mammut-Kostüm (Maylin Habig) kommt aus der Erwachsenenversion „Great Depressions“ (2018) am Frankfurter Produktionshaus Studio Naxos. Für das aktuelle Kinderstück ist das Mammut recycelt worden. Darin stecken zwei Spieler (Jacob Bussmann, Paula Schulenburg), die es wunderbar leicht tanzen, mit Ohren und Schwanz wackeln oder behäbig zwischen Urwaldpflanzen, Zelt und Publikum stapfen lassen. In diese Szenerie platzt ein robuster Steinzeitmensch mit Keule (Daniel Degeest), der Beeren von Sträuchern isst, beschwingt Lieder summt oder in die „Kacka“ vom Mammut tritt und die lachenden oder „Ihhh“-rufenden Kinder dazu animiert, kräftig zu pusten, um ein Feuer zu entfachen. Gerade dieser fast schon klamaukige Budenzauber, diese Ice-Age-Musical-Atmosphäre bereitet darauf vor, dass es auf einmal ernst werden kann. Die Interaktion mit den Kindern hat das Eis gebrochen.
Als der Höhlenmensch dem Mammut begegnet, schafft er es nicht, das Tier, das sich ganz allein und einsam fühlt und schrecklich langweilt, aufzuheitern. Das zieht ihn selbst runter und plötzlich fällt der vermeintlich harte Steinzeitmann aus seiner Rolle und ist nicht mehr Schauspieler, sondern Daniel Degeest.
„Ich hab ganz schön Angst vor dieser Stelle im Theaterstück“, sagt er. Degeest erzählt von seiner Kindheit, von Unsicherheit, Mobbing, Einsamkeit, Traurigkeit und Depression, wie er sich oft in den Schlaf geweint habe. Davon, dass man damals nicht darüber sprechen durfte, weil vieles tabu war, eben sehr steinzeitlich.
„War von euch schon jemand traurig?“
Das archaische Setting bildet einen wirkmächtigen Rahmen mit doppeltem Boden. Zum einen signalisiert es: Diese Zeit ist zum Glück vorbei. Zum anderen aber auch: Selbst, wenn wir heute darüber sprechen, bleibt in unserer schönen neuen Welt, in der viele Kinder zum Psychologen gehen, wenig Raum für Gefühle. In diesem Stück ist Platz dafür. Die Kinder im Publikum, die zuvor lautstark mitmachten, sind auf einmal still. Sie spüren, dass das jetzt eine echte Mammutaufgabe für Degeest ist, der sie eben noch mit seiner tölpelhaften Steinzeit-Attitüde amüsiert hat und jetzt erzählt, wie sehr er darunter gelitten hat, als „dickes, pickliges Kind mit Brille“ betrachtet worden zu sein. Das Mammut wird zur Metapher für Gefühle, die wir im Alltag verdrängen, während wir damit beschäftigt sind, zu funktionieren, Rollen zu spielen.
Bei Degeest werden die Gefühle so groß wie ein Mammut. Sie müssen raus. Er schafft die Aufgabe, kann seine Blockaden auf der Bühne lösen; fast schon therapeutisch wirkt das. Es geht ans Herz, wie Degeest so verletzlich und schonungslos ehrlich von seiner traurigen Kindheit erzählt. Heute lacht ihn keiner aus. „War von euch schon mal jemand traurig?“, fragt er die Kinder. Sie rufen „Ja“. Zum Schluss dürfen sie Steinen Gedanken mitgeben und sie auf die Bühne legen, um loszulassen.
Für den 37 Jahre alten Stange, der in diverse Projekte, etwa am Mousonturm, involviert ist und Dutzende Stücke geschrieben hat, ist die „Mammutaufgabe“ sein erstes, das sich an ein junges Publikum richtet. Gewissermaßen hat auch er eine Mammutaufgabe geschafft. Ihm und seinem Team ist eine von vorne bis hinten schöne, eine rührende, aber einfache und gerade deshalb so tiefgründige Inszenierung gelungen.
(FAZ, Sonja Esmailzadeh, 17.7.2024)